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Anfänge und Grundlagen (1846-1849) – Teil 2

1.6 Die ersten Vereinsstatuten

Das von Breuer konzipierte Statut hat in der Fassung vom 1.1.1847 insgesamt keine gravierenden Veränderungen gegenüber der mit der Denkschrift (s.o.) formulierten ‚Urfassung‘ erfahren. Bemerkenswert sind allerdings Varianten hinsichtlich des Vorstandes: Breuer hatte zunächst eine ausdrückliche Wahl des Präses nicht vorgesehen, während die Vorsteher allein vom Präses ausgewählt werden sollten, denen im Übrigen auch die Aufgabe von Vereinslehrern zugewiesen worden war. Allerdings ist die Wahl der Leitung durch die Mitglieder von Breuer bereits in die Ende Oktober entstandene Statutenfassung aufgenommen worden.

Das genannte Statut des katholischen Jünglingsvereins zu Elberfeld hat folgenden Wortlaut:

§ 1 Zweck des Vereines ist die Unterhaltung und Fortbildung katholischer Jüng-linge durch Vortrag, Gesang, Lesen und gegenseitige Besprechung, jeden Sonn- -und Festtag von 5 bis ½ 10 Uhr und montags von 6 bis ½ 10 Uhr.

§ 2 Die Leitung desselben hat ein Vorstand, bestehend aus einem Präses, zwei Vorstehern und fünf Assistenten.

§ 3 Der Präses ist einer der Geistlichen. Er wird von sämtlichen Mitgliedern des Vereins für drei Jahre gewählt, wobei der Abtretende wiedergewählt werden kann.

Er leitet die Wahl der Vorsteher und wählt in Verbindung mit diesen die Assi-stenten, hat den Vorsitz in den Versammlungen des Vorstandes, hat den ganzen Verein in allen seinen Beziehungen zu überwachen, die zum Zwecke desselben dienlichen Schriften und Blätter zu bestimmen, ein Verzeichnis sämtlicher Mit-glieder zu führen und den Austretenden auf Verlangen ein Zeugnis ihres Verhaltens im Vereine auszustellen.

§ 4 Die zwei Vorsteher werden unter Leitung des Präses von den sämtlichen Mit-gliedern für ein Jahr erwählt, können aber nach dessen Ablauf wiedergewählt werden. Beide haben die sich meldenden Jünglinge nach den Bestimmungen des 5 6 aufzu-nehmen, sodann im Vereine auf regelmäßigen Besuch, Ruhe, Ordnung usw. zu dringen, Ruhestörer dem Präses anzuzeigen oder auch nötigenfalls sogleich zu entlassen.

In die anderen Geschäfte des Vereines teilen sie sich so, daß der eine als Sekretär die notwendigen Skripturen besorgt, der andere das Amt eines Kassierers und Biblio-thekars versieht und halbjährig _ im Frühjahr und Herbst _ Rechnung ablegt.

§ 5 Die fünf Assistenten werden vom Präses in Verbindung mit den Vorstehern gewählt. Von ihnen verwalten vier ihr Amt sechs Monate, derjenige aber, welcher die Beiträge von den einzelnen Mitgliedern einsammelt und sie dann dem Kassierer übergibt, ein Jahr lang.

Die Pflichten der Assistenten sind: a.) Sie haben das Lokal zu öffnen und zu schließen, die Lichter anzuzünden und Licht und Feuer zu unterhalten; b.) die nötigen Bücher und Schriften herbeizuholen, umzuteilen, ein Verzeichnis der umgeteilten zu führen, sie beim Schlusse wieder zu sammeln und an Ort und Stelle zu bringen sowie auch darüber zu wachen, daß keine Schrift be-schädigt werde oder verlorengehe; c.) auf Ruhe und Ordnung zu dringen, Ruhestörer in Güte zu vernehmen und nötigenfalls einem Vorsteher anzuzeigen; und d.) darauf zu achten, daß der Saal, die Gerätschaften usw. nicht beschmutzt noch beschädigt werden.

Damit diesen Pflichten in geregelter Weise Genüge geschehe, teilen sich die Assi-stenten so ab, daß jeden Sonn_ und Feiertag von ¼5 bis 7 Uhr zwei, von 7 bis ½9 Uhr einer, von ½9 bis 10 Uhr wieder zwei, an den Montagen von ½6 bis 7 Uhr einer, von 7 bis ½9 einer, und von ½9 bis 10 Uhr zwei von ihnen, wie sie das ein für allemal unter sich ausmachen mögen, unfehlbar zugegen sind oder im Behinde-rungsfalle sich zuverlässig durch einen der anderen Assistenten vertreten lassen.

§ 6 Mitglied des Vereines kann jeder katholische Junggeselle werden, der wenig-stens achtzehn Jahre zählt und einen unbescholtenen Lebenswandel führt. Zur Aufnahme wende er sich an die Vorsteher, welche nach Gutbefinden seinen Namen an die Vorschlagstafel schreiben und ihn, wenn kein Einspruch geschehen, nach vierzehn Tagen gegen Entrichtung von vier S[ilber]gr[oschen] Eintrittsgeld als Mitglied aufnehmen und seinen Namen nebst Nummer seiner Wohnung in die Vereinsliste eintragen, daher jedes Mitglied seine etwaige Wohnungsänderung anzuzeigen hat. Die Zeit zur Anmeldung und Aufnahme ist jeden Sonntag zwischen 7 und 8 Uhr. Fremde dürfen nur beiwohnen, wenn sie von einem Mitgliede eingeführt und dann dem Vorstande vorgestellt worden sind.

§ 7 Jedes Mitglied zahlt für Licht, Feuer, Reinigung des Saales und sonstige Bedürfnisse jeden letzten Sonntag im Monate von 7 bis 8 Uhr an den zur Einsamm-lung bestimmten Assistenten zwei S[ilber]gr[oschen], welchen Beitrag der Vorstand nach weisem Ermessen zu erhöhen oder zu verringern das Recht hat. Wer an diesem Tage nicht gezahlt, muß sich binnen acht Tagen an den Assistenten wenden; wer gar nicht zahlt, hört auf, Mitglied zu sein. Die Assistenten sind von Zahlung des Beitrages frei.

§ 8 Die Ordnung des Unterrichts ist folgende: Sonntags 5½ Uhr Gesang; 6½ Uhr Vortrag. Montags 8½ Uhr Gesang; 9¼ Uhr Vortrag. Und [es] muß verlangt werden, daß alle diesen Stunden möglichst regelmäßig, auf-merksam und mit lebendiger Teilnahme beiwohnen und während derselben alle Störung als Reden, Aus_ und Eingehen usw. vermeiden.

Wer viermal nacheinander ohne Entschuldigung ausbleibt, ist nicht mehr Mitglied, kann aber nach Ermessen unter den 5 6 gestellten Bedingungen wieder aufge-nommen werden. Wer nicht am Gesange teilnimmt, möge sich absondern von den Sängern und sich in Stille beschäftigen; wer aber teilnehmen möchte, hat sich zuvor dem die Übungen leitenden Lehrer vorzustellen und seine Fähigkeit und Stimme prüfen zu lassen.

§ 9 Außerdem wird jeden Sonntag von 1 bis 2½ Uhr noch ein besonderer Unter-richt im Schreiben und Rechnen erteilt. Welche hieran teilzunehmen wünschen, haben sich zuerst, wie sich gebührt, dem betreffenden Lehrer vorzustellen, die notwendigen Schreibmaterialien selbst zu stellen und besonders diesem Unter-richte ganz regelmäßig beizuwohnen, damit der Zweck auch erreicht werde. Solche können sich dann auch Sonntag abends außer den Unterrichtsstunden in Rechnen und Schreiben, jedoch nur für sich, üben, da alsdann kein eigentlicher Unterricht erteilt und das Geleistete nur nach Gelegenheit von einem der Vorsteher nachgesehen werden kann.

§ 10 Kein Mitglied darf ohne Erlaubnis des Präses einen Vortrag halten, doch wird gerne gesehen, wenn die Mitglieder nach stattgefundenem Vortrage auch ihre Ansichten mitteilen, Einwendungen machen, sich Aufklärung über das Gehörte oder sonst Belehrung erbitten; nur geschehe es mit Anstand und Bescheidenheit, und jedes rechthaberische Räsonieren sei ferne. Während der übrigen Zeit ist jedes überlaute oder ungebührliche Sprechen, Zanken usw. untersagt, und geschehe alles in Ruhe und Stille.

§ 11 Jeder hüte sich, den Saal zu beschmutzen, die Gerätschaften zu beschädigen, besonders aber muß dringend von einem jeden verlangt werden, daß er nicht wild und rauh mit den Büchern umgehe, sie nicht herumwerfe und beim Umblättern oder sonstwie immer beschmutze und verderbe. Auch darf keiner die zum Vereine gehörigen Bücher oder Schriften mit nach Hause nehmen.

§ 12 Ein jedes Mitglied ist den Vorstehern und Assistenten nicht bloß die ihrem Amte gebührende Achtung, sondern auch unbedingte Folgsamkeit schuldig, und darf keiner sich einen leichtfertigen Tadel über ihre Handlungsweise erlauben.

§ 13 Wer sich zu wiederholten Malen Vergehen gegen diese Statuten zuschulden kommen läßt, wird vor den Präses oder den Vorstand geladen, im schlimmsten Falle auf der Stelle aus dem Vereine gestoßen.

§ 14 Abänderungen und Verbesserungen in obigen Statuten kann der Vorstand nach Ermessen vornehmen.

§ 15 Sehr löblich und wünschenswert ist, daß, wie alle Mitglieder ein Herz und eine Seele sein sollen, so auch alle an Sonn_ und Feiertagen der ersten h[eiligen] Messe gemeinsam beiwohnen und durch die eingeübten Gesänge die Feier erhöhen, sowie auch, daß dieselben viermal im Jahr gemeinsam in inniger, heiliger Liebe dem heil[igen] Tische nahen, und zwar den ersten Sonntag des Advents, Palmsonntag, den Sonntag nach Fronleichnam und am Feste des Namens Mariä.

Gott gebe Gedeihen und Segen!

 

Was die Vorstandsmitglieder betrifft, so machen die beschriebenen Aufgaben deutlich, daß bei den Vorstehern nicht an eigentliche Mitglieder (Gesellen) gedacht war, wohl aber bei den Assistenten. Diese Einschätzung wird u.a. bestätigt durch die Tatsache, daß Johann Gregor Breuer von Anfang an als einer der Vorsteher im Elberfelder Verein geführt wurde. Die als Monatsbeitrag festgelegten 2 Silbergroschen entsprachen im Übrigen in etwa einem Stundenlohn.

Schon in die Amtszeit Kolpings als Präses fällt eine Neufassung der Vereinsstatuten, datiert vom 9. Oktober 1848. Erst diese Statutenfassung wurde gedruckt und konnte damit in die Hände aller Mitglieder gegeben werden. Sie ist einerseits - im Lichte der bisher gewonnenen Erfahrungen - insgesamt als redaktionelle Überarbeitung im Sinne sowohl präzisierender als auch flexiblerer Formulierungen zu werten, beinhaltet andererseits aber auch einige bemerkenswerte Veränderungen.

Der Vereinszweck benennt jetzt als deutliche inhaltliche Ausweitung ausdrücklich „Anregung und Pflege eines kräftigen religiösen und bürgerlichen Sinnes.“ In der Vereinsorganisation (§ 1) wird eine deutliche Trennung zwischen dem Vorstand und den Mitgliedern konstituiert: „Der Verein besteht aus dem Vorstande und den Mitgliedern.“ Neu im Vorstand (§ 2) ist das Amt des Seniors, der (§ 7) „aus den zwölf ältesten Mitgliedern des Vereins“ gewählt wird und sein Amt „auf unbestimmte Zeit“ verwaltet. Seine Aufgabe ist die Einsammlung der Mitgliedsbeiträge. Mit diesem Amt ist zugleich die Reduktion der Zahl der Assistenten von 5 auf 4 verbunden. Neu ist auch (§ 2) der Hinweis, wonach sich der Vorstand „um geeignete, das Interesse des Vereins fördernde Mitglieder“ vermehren kann. Bei den Mitgliedern (§ 9) sind Lehrlinge ausdrücklich ausgeschlossen. Über die Aufnahme von Mitgliedern steht dem Präses der „Entscheid“ zu, der Neumitglieder auch „förmlich“ aufzunehmen hat (§ 10). Die (möglichen) Ausschlußgründe werden erweitert: Nicht mehr nur die „Übertretung der Statuten“ kann zum Ausschluß führen (§ 18), sondern auch (§ 19) „jedes öffentliche, den guten Ruf befleckende Vergehen“, ebenso die „Verabsäumung“ der österlichen Christenpflicht. Allein dem Präses steht der Vollzug eines Ausschlusses zu. Für die Vorstandssitzungen wird (§ 21) ein regelmäßiger Turnus („alle drei Monate“) bestimmt. Zu etwaigen, vom Vorstand vorzunehmenden Statutenänderungen wird schließlich (§ 22) die vorhergehende „Beratung mit den Mitgliedern des Vereins“ mit entsprechender mehrheitlicher Beschlußfassung vorgeschrieben.

Diese Neufassung der Statuten markiert den Beginn einer für die weitere Entwicklung des Werkes wichtigen Regelung: Der bisher als Leitung des Vereins ausgewiesene Vorstand wird jetzt quasi zu einer eigenständigen Einrichtung neben den Mitgliedern, und er wird für einen größeren Personenkreis, auch außerhalb der eigentlichen Zielgruppe, geöffnet. Damit ist das Modell des Schutzvorstandes konzipiert, das sich später flächendeckend verbreitet hat, wobei es sich im Grundsatz allerdings mit der schon in Breuers Denkschrift geforderten Einbeziehung angesehener Männer der Gemeinde (s.o.) deckt. Zudem wird ausdrücklich die Stellung des Präses hin zu einer klaren Dominanz gestärkt, ohne dessen „Wissen nichts den ganzen Verein Betreffendes, insoweit es in den Statuten nicht vorgesehen ist, angeordnet und ausgeführt werden“ darf (§ 4) und dessen Stimme bei Abstimmungen mit Stimmengleichheit immer den Ausschlag gibt (§ 22).

Mit den ersten Elberfelder Statuten sind von Anfang an einige grundlegende und bis heute überkommene bzw. relevante Prinzipien oder Strukturelemente des Gesellenvereins (Kolpingwerkes) ausgeprägt, auch wenn sie im Laufe der Verbandsgeschichte z.T. ein durchaus wechselvolles Geschick erfahren haben. Dazu gehören vor allem die verantwortliche Einbeziehung des Priesters als Präses in die Verbandsarbeit sowie die Wahl der Leitungskräfte einschließlich des Präses, dazu gehören weiterhin die Beitragsverpflichtung für die Mitglieder, eine klare Regelung von Zugangs- und Ausschlußbedingungen bzw. -verfahren, eine sachbezogene Aufgabenverteilung im Vorstand sowie nicht zuletzt ein klarer inhaltlicher Akzent bei der Bildungsarbeit.

 

1.7 Arbeit im Gesellenverein

Zur Arbeitsweise des Vereins - über die von den Mitgliedern selbst gestalteten Aktivitäten (Lektüre, Konversation, etc.) hinaus - hat das Statut in den oben zitierten §§ 8-9 wesentliche Grundzüge festgelegt. Die skizzierte Konzeption der Bildungsarbeit konnte sich im Grundsatz unter sowohl inhaltlicher als auch organisatorischer Rücksicht auf Dauer als durchaus tragfähig erweisen und blieb insofern für lange Zeit wegweisend. Demgegenüber hat sich aber der hinter den zitierten Regelungen durchscheinende Ansatz einer quasi schulischen Disziplin in der weiteren Entwicklung der Vereinstätigkeit nicht durchgehalten bzw. nicht durchhalten lassen; hier setzte sich sehr bald schon, wie auch im Bereich kirchlicher Aktivitäten, das Prinzip der Freiwilligkeit durch: „Kein Geselle darf zum Unterricht verpflichtet werden, so daß von der Versäumnis derselben der Ausschluß aus dem Vereine abhinge.“

Im Übrigen ist mit Blick auf die tatsächliche Lebenssituation der Gesellen (Mitglieder) festzuhalten, daß sich der Unterricht im Verein wesentlich auf grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten bezog bzw. beziehen mußte, und dies für viele Jahrzehnte! Die Konzentration auf die sog. ‚Elementarfächer‘ wie Lesen, Schreiben und Rechnen weist nachdrücklich auf das geringe Bildungsniveau der Gesellen hin und muß insofern auch als bedeutsames Faktum hinsichtlich der Frage von Leitung und Verantwortung im Verein resp. im Verband bedacht werden!

Eine kurzgefaßte Schilderung des Vereinslebens durch Adolph Kolping liest sich so: Und wie geht's in dem Vereine her? Der Verein ist katholisch, ungefähr geht's darin her wie in einem katholischen Hause, nur wird nicht darin gebetet. Heiterkeit und Frohsinn wechselt mit Ernst und geistiger Beschäftigung, Kopfhängerei wird nicht gelitten, kann aber auch nicht aufkommen. Die möglich größte Freiheit wird mit der nötigen Ruhe und Ordnung gepaart, es sind da eben junge Männer. Sonntags im Winter um 5, im Sommer um 6 Uhr abends, montags eine Stunde später wird das Lokal geöffnet und gegen 10 Uhr geschlossen. Während dieser Zeit steht jedem Mitgliede das Aus- und Eingehen frei. Fremde müssen sich bei einem stets gegenwärtigen Vorstandsmitgliede anmelden. Bücher und Zeitungen sind da zum Lesen, Schreibzeug zum Schreiben, auch darf man sich zusammensetzen und plaudern, sein Pfeifchen rauchen; nur ist störendes Lärmmachen verboten. Essen und Trinken gehört auch anderwärts. Sonntagabends nach 6, montags um ½ 9 Uhr wird Unterricht im geistlichen und weltlichen Gesange erteilt, ernst und heiter gesungen für Kirche und Haus, woran teilnimmt, wer will, und endlich, wer kann. Sonntags um 7 Uhr erscheint in der Regel einer der H[erren] Geistlichen und hält einen belehrenden Vortrag über religiöse Gegenstände oder liest aus einem guten Buche vor, auch wird wohl eine Unterhaltung angeknüpft, und Tageserscheinungen, welche die Kirche betreffen, werden besprochen. Es ist ja auch Sonntag. Zumeist wird das praktische Christentum in der Kirche und zu Hause im Auge behalten, auch wohl Rücksicht auf örtliche Verhältnisse genommen, indes nur selten und dann nur schützend und abwehrend. Das Volk hat nicht den Beruf, die Polemik zu führen. Diese Unterhaltung dauert bis gegen 8 Uhr. Die übrige Zeit kann sich jeder in seiner Weise beschäftigen. Montags abends wird gegen 9 Uhr ein Vortrag über weltliche Dinge gehalten - Politik ist ausgeschlossen, es wird ohnehin genug gekannegießert -, wird geredet über Dinge, die ins bürgerliche, praktische Leben hineingehören und geeignet sind, den jungen Mann an seinen irdischen Beruf zu mahnen, ihn zu einem ehrenhaften, tüchtigen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu erziehen. Da ist Gelegenheit, über alles das zu sprechen, was wir in der Welt beklagen und gerne gebessert sähen, Mittel werden aufgesucht, wie es könne gebessert werden, unerschöpflich ist der Stoff, wenn man nur ins wirkliche Leben hineinsehen will und für sein Gutes und Böses ein offenes Auge behalten [will]. Auch werden passende Volksschriften vorgelesen und, wenn's nötig ist, kommentiert. Heiterkeit und Scherz gehört da zum Ernst und zur Bedächtigkeit wie im praktischen Leben froher Sinn bei fleißiger Arbeit. Gegen 10 Uhr wird der Verein geschlossen, und wir können dafür bürgen, daß montags und dienstags morgens unsere Jünglinge viel frischer und fröhlicher bei der Arbeit sind, viel zufriedener in die neue Woche gehen.

An dieser Darstellung fällt insbesondere ein Aspekt auf, der sich bis zur Gegenwart als konstitutiv für die Verbandsarbeit im Gesellenverein / Kolpingwerk erhalten und bewährt hat. Gemeint ist der sog. ‚ganzheitliche Ansatz‘. Nicht ein quasi sektorales Angehen der menschlichen Person in ihrem komplexen gesellschaftlichen Kontext und mit ihren vielschichtigen Interessen und Bedürfnissen ist angesagt, sondern der ganze Mensch ist im Blick, dessen alltägliche Lebenswirklichkeit und damit auch die angestrebte Bewährung als Christ in der Welt eben viele Facetten oder Dimensionen aufweist, die ihrerseits durch vielfältige Zusammenhängen und Wechselwirkungen geprägt sind.

Zum religiös-kirchlichen Aspekt des Vereins bzw. Vereinslebens führt Kolping aus: Beten und Arbeiten soll sonst der Wahlspruch jedes ordentlichen Christenmenschen seine, unser Wahlspruch aber ist Beten und Lernen und Arbeiten, alles mit Ernst und doch mit Fröhlichkeit, wie es der Jugend überhaupt geziemt, dem jungen Manne vor allem. Was das Beten betrifft, so sind die Mitglieder des Vereins an und für sich gehalten, ein christliches Leben zu führen, ihre kirchlichen Pflichten zu erfüllen - Gottesverächter, solche, die die Kirche scheuen, die heiligen Sakramente verachten und vernachlässigen, schließen sich nicht an oder halten es nicht lange aus. Zu besonderem Gottesdienst, zu vierteljähriger Kommunion werden alle freundlich eingeladen, keiner gezwungen, obschon alle folgen, und das ist schön. Sonst sind keine besonderen religiösen Verpflichtungen da. Indessen müßte es doch sonderbar sein, wenn der Jüngling, der mit Lust sich ernsteren Dingen weiht, regelmäßiger zur Kirche, zu den heil[igen] Sakr[amenten] geht, manches Gute außerdem hört und sieht, nun nicht lieber und besser sein Morgen- und Abendgebet betet und auch im Leben zeigen sollte, daß er ein mutiger kath[olischer] Christ ist; und tut er das, wollen wir schon völlig zufrieden sein. Was aber das Lernen betrifft, so widmet dem der Verein seine besondere Sorge. Ist die Jugendzeit die Zeit der Aussaat, nun, so wollen wir säen, säen für Zeit und Ewigkeit, für das bürgerliche Leben und für das Christentum.

Ob und inwieweit sich dieser offene Ansatz im weiteren Verlauf der Verbandsgeschichte hat durchhalten lassen, wird sich später noch zeigen. Wichtig scheint an dieser Stelle vor allem die Betonung des ‚einladenden‘ Charakters der praktischen Arbeit durch Adolph Kolping, wo das recht verstandene Eigeninteresse der Mitglieder leitendes Motiv für ihr Mittun sein sollte. Es kam nicht darauf an, aus den Mitgliedern - quasi über ihre Köpfe hinweg - etwas machen zu wollen; sie selbst sollten und mußten die entscheidende Voraussetzung mitbringen, etwa aus sich machen zu wollen und zu können!

Der gedruckten Statutenfassung von 1848 gab Adolph Kolping einige grundsätzliche Anmerkungen für die Mitglieder bei. Sie markieren die langfristige Perspektive bzw. Zielsetzung des Gesellenvereins noch klarer als bisher: Es geht um die Anregung und Befähigung junger Männer (Gesellen) zu ‚tüchtiger‘ Lebensgestaltung auf klarem religiösem Fundament, die im Ergebnis zu einem ‚gesunden‘ Meisterstand führen soll, der seine Chancen und Aufgaben im Kontext der ganz allgemein verstandenen Gestaltung sozialer Verhältnisse aktiv wahrnimmt.

‚Der Mensch ist seines Glückes eigener Schmied‘, sagt das Sprichwort, und, heißt des anderwärts, ‚was man in der Jugend sät, wird man im Alter ernten.‘ Wohlan denn, schmieden wir mit ernster, besonnener und fröhlicher Kraft an unserem Glücke, säen wir beizeiten mit rüstiger Hand guten Samen auf ein gutes Erdreich, daß die Saat gedeihlich wachse aus der Jugend in das reifere Mannesalter hinüber und ihre Früchte uns erfreuen, selbst über das Grab hinaus. Glücklich aber wird der Mensch, wenn er, zufrieden mit der Stellung, die ihm Gott gegeben, gerade mit Ehren und Treuen den Platz ausfüllt, den die Vorsehung ihm zugewiesen, wenn er sich eifrig bestrebt, tüchtig das zu sein und zu werden, was er sein und werden soll. Ihr seid, meine Freunde, junge Männer, die sich auf ihren künftigen Beruf vorbereiten sollen, die einst als tüchtige Bürger, als Haus- und Familienväter nicht bloß den Ihrigen vorzustehen haben, sondern deren Wohlergehen auch auf der Achtung und dem Zutrauen beruht, welches andere Leute in euch setzen. Wollt ihr der Achtung eurer Mitbürger dann wert sein, soll ihr Zutrauen euch entgegenkommen, müßt ihr jetzt euch bereits desselben wert machen, müßt ihr jetzt bereits Achtung und Zutrauen euch erwerben. Wollt ihr einst tüchtige Meister, tüchtige Hausväter werden, müßt ihr jetzt tüchtige Gesellen, tüchtige Arbeiter sein in dem Fache, wozu die Neigung oder göttliche Fügung euch berufen. Euch dazu anzuleiten, den Zweck eures Lebens klar und deutlich vorzuhalten, nach unseren Kräften euch diesem Ziele zuzuführen, bewahrend und fördernd eurem kostbaren Alter den Wert mitzuteilen, den es hat, haben wir den Verein gegründet, als dessen Mitglieder ich euch mit Freuden begrüße. Was dem einzelnen zu schwer wird oder woran er oft verzagt, das gedeiht ohne Mühe, wenn gemeinsame Kräfte, sich gegenseitig Stütze und Halt, dem Ziele zustreben. Mit dem Vorsatze also, jetzt tüchtig zu sein, was ihr seid, um das tüchtig zu werden, was ihr werden sollt, euch auszubilden nach Kräften für euren künftigen Beruf, seid ihr unserem Vereine beigetreten. Haltet denn den wahren Zweck eures Lebens, der zugleich anzustrebender Zweck unseres schönen Vereins ist, stets lebhaft vor Augen und sucht ihn zu erreichen mit rüstiger Kraft. Zur wahren Tüchtigkeit des Menschen gehört aber, daß er an Leib und Seele tüchtig sei, und ich verstehe darunter, daß der Mann sein Geschäft, welches es auch sei, tüchtig und gründlich verstehe, es ordentlich zu führen und zu halten wisse und daß er ein tüchtiger, ehrenwerter Christ sei im Innern und nach außen. Tüchtige Christen also wallt ihr sein, und ihr habt Recht. Ohne ein kräftiges, lebendiges Christentum ist es mit dem Menschen nichts und wird auch nichts. Ohne ein tüchtiges Christentum kein kräftiger Halt im Leben, keine wahre Zufriedenheit, keine rechte Tugend, keine dauernde Rechtschaffenheit, ohne lebendiges Christentum kein Glück. Das Christentum ist die eigentlich gesunde Kraft im Leben; wo es mangelt, ist das Leben krank. Deshalb wollt ihr euch in eurem Glauben mehr und mehr unterrichten lassen, und in der Tat, je mehr man ihn kennenlernt, um so lieber übt man ihn. Und tüchtige Geschäftsleute wollt ihr werden - natürlich, dann müßt ihr euch jetzt schon an männlichen Ernst, an Ordnung, Tätigkeit, Umsicht, Sparsamkeit gewöhnen, müßt ihr jetzt euren Stand liebgewinnen und alle Kräfte aufbieten, euer Geschäft tüchtig und gründlich kennenzulernen. Daß ihr das wollt und deswegen euch unserem Vereine angeschlossen habt, ist ein gutes Zeugnis für eure Zukunft. Bleibt dann der Sache, eurem guten Vorsatze getreu, der Lohn wird für euch selbst nicht ausbleiben!

 

1.8 Fundierung und Publizierung

Nach Übernahme des Präsesamtes war es Kolping mit seinem immer wachen Sinn für die Bedeutung offensiver Öffentlichkeitsarbeit zunächst darum gegangen, den neuen Verein einer breiteren Öffentlichkeit vorzustehen; erstmalig geschah dies im Laufe des Jahres 1848 in zwei Beiträgen im Rheinischen Kirchenblatt, nämlich ‚Ein Wort über Volksvereine und der Katholische Jünglingsverein zu Elberfeld' sowie ‚Der Kath[olische] Jünglingsverein zu Elberfeld.‘ Bereits im September 1847 war der Verein ja der Laurentius-Gemeinde in einer Predigt vorgestellt worden.

Bereits in diesen frühen Texten sind die grundlegenden Aufgaben und Zielsetzungen des Gesellenvereins in einer Weise abgehandelt, die späteren programmatischen Veröffentlichungen Kolpings entspricht. Als frühestes Beispiel ist hier die 1848 entstandene Schrift ‚Der Gesellenverein‘ zu nennen, die den Untertitel trägt „Zur Beherzigung für alle, die es mit dem wahren Volkswohl gut meinen“ und deren Motto lautet „Tätige Liebe heilt alle Wunden, bloße Worte mehren nur den Schmerz.“

Nur einige zentrale Passagen dieser Schrift, die sich einer eingehenden Situations-beschreibung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der wandernden Gesellen anschließen, sollen hier eingeblendet werden: Hat nämlich der Handwerksstand, besonders in den Städten, eine solche Bedeutung, trotz seiner traurigen Lehrzeit und seiner scheinbar untergeordneten Stellung, ... dann muß uns die Jugend dieses Standes, müssen uns Gesellen und Arbeiter sehr nahe an-gehen, und werden wir ihnen ein nicht zu verachtendes Interesse zuzuwenden haben. Oder sollen wir warten, bis das um sich greifende Verderben, die herrschende Sittenlosigkeit, jene maßlose Frivolität mit dem Heiligen und die Umkehr allen Rechts wie die Verwirrung aller und jeder Be-griffe auch bei uns diesen Stand durchgefressen und vollends ruiniert hat? Sollen wir hier am Rhein uns auch solche Zustände über den Kopf wachsen lassen, wie sie z. B. in der Hauptstadt in schau-dererregender Weise da sind, Zustände, die Menschenweisheit und Menschenkraft schwer-lich werden heilen können? Nein, unser Volk ist noch nicht so weit - Gott sei Dank! -, aber auf dem Wege dazu, was mir schwerlich wird bestritten werden. Nun, dann dämmen wir beizeiten, damit die wühlenden Fluten uns endlich nicht auch verschlingen. Helft Hand ans Werk legen, damit wenig-stens diese eure Mit-menschen, die ihr bis dahin zu wenig geachtet und nun fürchtet, euch wieder achten und dann lieben lernen; helft wirken, damit bei ihnen des Elends und der Verkom-menheit weniger werde; euer eigenes Herz wird sich dabei erleichtern. Vorab nehmen wir uns der jungen Arbeiter, der Gesellen einmal kräftig an, üben wir an ihnen, die da einst viele bald Meister, Bürger und Familienväter werden, wahre Christenpflicht und helft eine bessere Zukunft schaffen, indem ihr sie erziehen helft. ... Wie aber wird man sich der jungen Arbeiter, der Gesellen füglich annehmen können, wie bildend und för-dernd auf sie einwirken? Ich sage, in anregender, erziehender Weise, welche der eige-nen Kraft freien Spielraum läßt, sie nur auf würdige Gegenstände zu lenken strebt, sie vernünftig zusammenhält, damit desto energischer sie dem Guten dienen. Vorderhand aber muß für das nötigste Bedürfnis gesorgt werden. Interessiert dich die Sache, lieber Leser, lies weiter.

Was dem jungen Handwerker zunächst fehlt, ist ein kräftiger moralischer Halt im Leben, eine freundlich zurechtweisende Hand, eine wenn auch von weitem um ihn wandelnde liegende Sorge, die sein Vertrauen verdient. Jeder fühlt sich aber recht eigentlich behaglich unter Seinesgleichen. Den genannten moralischen Halt müßte man ihm eben bei und mit seinen Genossen geben können. Wer ihn weisen und leiten soll, zu dem muß er von Natur aus eine gewisse Neigung haben und seiner tätigen, uneigennützigen Sorge bei vorkommenden Fällen versichert sein. Weiter fehlt ihm zumeist die Gelegenheit, sich außer der Werkstätte und dem Wirtshause irgendwo behaglich niederzusetzen und wenigstens eine Weile sich mit ernsten, ihn bildenden Dingen zu befassen. .... Es fehlt dem jungen Arbeiter ein Zufluchtsort außer der Herberge und dem Wirtshause, wo er recht eigentlich eine Weile rasten und Nahrung für seinen Geist erhalten könnte, die, auf ihn berechnet, ihm zusagen müßte. Es fehlt ihm ferner die Gelegenheit, sich für seinen Be-ruf, für seine Zukunft gewissermaßen auszubilden, abgesehen von der technischen Fertigkeit, welche ihm die Werkstätte des Meisters mitgeben soll. Noch mehr fehlt ihm eine passende, Geist und Gemüt wahrhaft aufrichtende und stärkende Unterhaltung und Er-heiterung, wie er sie weder zu Hause noch im Wirtshause noch an öffentlichen Vergnügungsorten erhält. Auch muß die Religion wieder wachgerufen und aufgefrischt werden in seinem Herzen, indem ihm wieder ein lebhafteres Interesse dafür eingeflößt wird. Deshalb müssen seine Kenntnisse in dieser Beziehung erweitert und ihm Gelegenheit geboten werden, seines Glaubens wieder froh zu werden. Dann mangelt ihm zuletzt noch die Gelegenheit, von Herzen tätig zu sein mit und für andere. Auch sein Herz will Gegenstände haben, an denen seine Liebe sich übt. Ob man diesen Bedürfnissen füglich abhelfen könne? Ich sage ja, man soll es sogar, wenn man es mit diesem so wichtigen Teile des Volkes noch gut meint. Wie wäre das denn anzufangen?

Man richte nur in allen Städten, wenn nicht in allen größeren Gemeinden, einen freundlichen, geräumigen Saal ein, sorge an Sonn- und Feiertagen wie am Montag abend für Beleuchtung und im Winter für behagliche Wärme dazu und öffne dann dies Lokal allen jungen Arbeitern, denen es mit ihrem Leben und ihrem Stande nur immer ernst ist. Da die jungen Leute, die der Einladung folgen, Gemeinsames mit ziemlich gleichen Kräften wollen, bilden sie dadurch einen Verein, ... an dessen Spitze ein Geistlicher stehen soll, der die-ser Stelle mit all der persönlichen Hingebung und Auf-opferung vorzustehen hat, welche sein heiliges, gerade dem Volke gewidmetes Amt und die gute Sache erheischen. Je nützlicher und ange-nehmer, je freier und würdiger der Aufenthalt in dem Vereinslokal für die jungen Leute gemacht wird, um so größer wird die Teilnahme sein, um so fester werden sie bei der guten Sache hal-ten. Da dürfte es nicht an guten Büchern, Schriften und Zeitungen fehlen, nicht bloß, die das re-li-giöse Interesse vertreten, sondern die auch , was ja nicht zu übersehen wäre, dem bürgerlichen Leben gelten, die gewerbliche Gegenstände behandeln und, soviel wie möglich, jedem Handwerker von Nutzen sein können. Dazu muß das lebendige Wort treten. Da wäre die Gelegenheit günstig, die Religion als die Grundlage des Volks- und Menschen-glückes wieder anzubauen und den Herzen nahezubringen wie überhaupt auf alle Lebensverhältnisse einzugehen, die den Gesellen berühren und deren Besprechung ihm von überaus großem Interesse sein müßte.

Zusammenfassend heißt es im Blick auf die angesprochene Zielgruppe der Gesellen: Klar und unablässig könnte man ihnen ihren wahren Beruf, ihr echtes Lebensziel vor Augen halten wie die Mittel besprechen, dies Ziel auf die sicherste Weise zu erreichen. Tüchtige Bürger sollen sie werden, zu tüchtigen Bürgern muß man sie erziehen. Ein tüchtiger Bürger muß ein tüchtiger Christ und ein tüchtiger Geschäftsmann sein, nun, dann muß man der betreffenden Jugend wenigstens insoweit zur Hand gehen, daß sie beides werden kann. Tüchtige Bürger gedeihen aber nur in einem tüchtigen Familienleben. Wenn das für unsere Jugend anderwärts fehlt - und daß es fehlt, wissen wir alle sehr gut -, dann suchen wir unseren jungen Leuten durch einen solchen Verein wenigstens annähernd die Vorteile zu gewähren und darauf mit allen Kräften hinzuwirken, daß diejenigen, welche sich um uns scharen, einst eine bessere, an Leib und Seele gesündere Generation in besserem Familienleben erziehen.

Sicherlich kommt dieser Schrift neben der Denkschrift Johann Gregor Breuers (s.o.) zentrale Bedeutung für die Verbandsgeschichte im Sinne eines prägenden Grundlagendokumentes zu. Zugleich hat sie eine wichtige Rolle für die Verbreitung der Vereinsidee über Elberfeld hinaus gespielt. Sie beinhaltet definitiv die klare Konzentration auf die (wandernden) Handwerksgesellen in ihrer konkreten und durchaus problematischen Lebenssituation, wie sie dann ja auch die weitere Entwicklung des Werkes geprägt hat. Diese Konkretisierung erleichterte auf Dauer naturgemäß eine klare inhaltliche Konzeption der Verbandsarbeit, ebenso die spätere Wahrnehmung einer im weitesten Sinne verstandenen politischen Interessenvertretung. Allerdings läßt sich für die Verbandsentwicklung in den frühen Jahren nicht detailliert nachweisen, in welchem Maße sich die Mitgliedschaft in den einzelnen Gesellenvereinen tatsächlich ‚nur‘ aus Handwerksgesellen rekrutierte.

Erstmalig ist in diesem Dokument auch eine breitere Darlegung zum Begriff ‚Tüchtigkeit‘ (s.o.) gegeben, wo sich im Laufe der Zeit als quasi kurzgefaßte Zusammenfassung der bestimmenden Zielsetzung des Werkes die Formel vom ‚tüchtigen Christen, tüchtigen Meister, tüchtigen Familienvater und tüchtigen Bürger‘ entwickelt hat. „In und durch das Vereinsleben, das auf dem Boden einer wahrhaft katholischen Liebe wächst und blüht, von ihrem Geiste getragen wird, soll der künftige Familienvater, der Meister und Bürger jetzt gebildet werden.

Kolping hat, wie bereits angesprochen, mit den entsprechenden Texten zum Gesellenverein seine Überlegungen auch - deutlicher als Breuer - in einen zugleich grundsätzlichen wie aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt: Der katholische Gesellenverein wird im Lichte der drängenden sozialen und religiösen Frage ausdrücklich - etwa unter dem Stichwort „Heilmittel“ für „Mängel in der Gegenwart“ resp. als „Heilmittel für viele Wunden und Schäden im Volke“ - als ein Instrument zur Mitwirkung an der Lösung der sozialen Frage und damit als konkreter Beitrag zur Sozialreform verstanden und begründet. In diesem Zusammenhang tritt zunehmend das Handwerk (der Handwerkerstand) als Ganzes in den Blick, das ja in der Phase einer weitgehenden Gewerbefreiheit und der sich allmählich durchsetzenden Industrialisierung mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte (s.o.). Insofern wird der Gesellenverein mit zunehmendem Nachdruck auch als ein ‚Instrument‘ verstanden und beschrieben, hier für die Zukunft entscheidende positive Weichenstellungen vornehmen zu können und zu wollen. „Wir sagen und werden es noch oft sagen müssen: An der Wiederherstellung dieses Standes zu arbeiten, ist eine gebieterische Pflicht der Gegenwart, die um so dringlicher ist, als jeder Aufschub das Übel nur unheilbarer vergrößert.

 

1.9 Kolpings Weggang nach Köln

Schon bald nach seinem Amtsantritt als Präses des Elberfelder Gesellenvereins hat sich Kolping intensiv um die publizistische Verbreitung der Idee bemüht (s.o.). Er hat nicht nur den Elberfelder Verein einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt, sondern auch - konkret seit 1848 - verschiedentlich Hilfestellung für ähnliche Bemühungen in anderen Orten angeboten und damit für eine Ausbreitung geworben: Was wir aber hier durch unsern Verein gekonnt und wozu uns noch alle Tage die Lust gewachsen, soll man das nicht auch anderwärts können? Oder haben wir es hier mit aparten Menschen zu tun? Oder ist anderwärts das Bedürfnis geringer als bei uns? Man wird es können, wenn man nur herzhaft will, und die Menschen haben so ziemlich das gleiche Bedürfnis in ziemlich gleichen Verhältnissen.

Frühzeitig schon taucht auch der Gedanke einer Verbindung der bestehenden Gesellenvereine auf, der 1850 zur Verbandsgründung führte: Mehrere Städte in Rheinland und Westfalen haben bereits mit dem hiesigen Vereine Verbindungen angeknüpft, da und dorthin haben bereits die Gesellen die Idee verbreitet, mündliche Rücksprache hat das übrige getan. Möchte diese Aufforderung die anderen Städte auch so bereitwillig finden, damit der wandernde Bursche in unserem sonst doch so menschenfreundlichen Vaterlande allerwegen Stütze, Halt und Pflege finde. Die Vereine müßten dann bald in nähere Verbindung treten, könnten sich über gemeinsame Anordnungen benehmen, ihre Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig Material mitteilen, reges Leben, was dem einzelnen so schwer wird, erhalten und fördern. ... Wohlauf, ihr Brüder, Mitarbeiter im Weinberge des Herrn, rüstig ans Werk! Die Zeit fordert Großes von uns, da ist eine würdige Aufgabe, laßt uns gemeinsam an die Lösung gehen, gemeinsame tätige Liebe verrichtet Wunder. ... Mitten in der Bewegung der Zeit bauen wir ein Haus des Friedens, pflanzen das Kreuz auf den Giebel, und Gottes Segen wird drin verweilen.

Mit Stichworten wie ‚gemeinsame Anordnungen‘, ‚Erfahrungen austauschen‘, ‚Material mitteilen‘ sowie ‚reges Leben erhalten und fördern‘ sind hier bereits, noch bevor auch nur ein weiterer Verein entstanden war, die zentralen Ansatzpunkte für Verbandsarbeit - im Sinne des ‚sinnvollen‘ und ‚nützlichen‘ Zusammenwirkens lokaler Vereine - klar zum Ausdruck gebracht.

In der Konsequenz seiner Entscheidung für ein als Lebensaufgabe begriffenes Engagement für die Idee des Gesellenvereins mußte Kolping rasch erkennen, daß für eine Ausbreitung des Werkes in der rheinischen Metropole Köln weit bessere Voraussetzungen bestehen würden. Spätestens seit dem Jahre 1848 betrieb er deshalb seine Verset-zung nach Köln, die im Frühjahr 1849 mit der Ernennung zum Domvikar erfolgte. Parallel dazu hatte er bereits von Elberfeld aus verschiedene Bemühungen um die Gründung eines Gesellenvereins in Köln in die Wege geleitet, die dann am 6. Mai 1849 erfolgen konnte. Dem weiteren Auf- und Ausbau des Werkes widmete er sich seither neben seiner Tätigkeit als Domvikar und neben seiner Arbeit im Kölner Verein mit ganzer Kraft, und dies gerade auch in seinem publizistischen Wirken.

Kolpings Weggang nach Köln, sicherlich auch ‚erleichtert‘ durch manche anderweitige Probleme in der Pfarrgemeinde St. Laurentius in Elberfeld, markiert den ersten und zugleich wichtigsten Einschnitt in der Verbandsgeschichte: Der in Elberfeld auf die Initiative Johann Gregor Breuers hin erfolgreich etablierte Katholische Gesellenverein wird ‚übertragen‘, und damit wird diese Idee ganz praktisch auf den Prüfstein einer allgemeinen Relevanz gestellt! Zwar war ihr diese von Kolping in seinen Veröffentlichungen längst zugemessenen worden, aber nur der sichtbare Erfolg dieses Bemühens konnte auf Dauer den Weg vom lokalen Verein zum überörtlichen Verband öffnen!

Anläßlich der Verabschiedung Kolpings aus Elberfeld ist wohl zum ersten Male die Bezeichnung ‚Vater‘ verwendet worden, die dann später, und zwar schon mit sehr frühen Belegen, zu den Begrifflichkeiten bzw. Benennungen ‚Vater Kolping‘ und ‚Gesellenvater‘ geführt hat.

 

1.10 Der ‚Gründungsstreit‘

Die Frage nach dem Verdienst an der Gründung des ersten Gesellenvereins und damit letztlich um die ‚Urheberschaft‘ für das Kolpingwerk insgesamt hat bis in die Gegenwart hinein zu einer langen und teilweise erbittert geführten Kontroverse geführt. Tatsächlich hat Adolph Kolping in seinen überlieferten Äußerungen zur Entstehung des Werkes Breuer nie namentlich erwähnt; zugleich ist er einer schon früh beginnenden Legendenbildung, die ihn als ‚Gründer‘ oder ‚Stifter‘ bezeichnete, nicht erkennbar entgegengetreten. In eigenen Äußerungen hat Kolping gelegentlich durchaus einen entsprechenden Eindruck vermittelt, ohne sich selbst allerdings ausdrücklich als Gründer zu bezeichnen. Johann Gregor Breuer hat jedenfalls keinen Zweifel an seiner Überzeugung gelassen, daß sein Verdienst um die Sache sowohl von Adolph Kolping selbst als auch später durch den Verband nicht angemessen gewürdigt worden sei.

Weitergehende Interpretationen dieses Sachverhaltes müssen aufgrund der Quellenlage eher einem spekulativen Bereich zugeordnet werden. Bedenkenswert scheint in diesem Sinne die Überlegung, daß für Adolph Kolping in seinem zur Lebensaufgabe gewordenen Bemühen um Anerkennung und Ausbreitung des Werkes die Rolle als Gründer sicherlich eine Erleichterung sein konnte und daß das von ihm massiv geforderte Engagement des Klerus im Gesellenverein eher ‚ankommen‘ bzw. ‚angenommen‘ werden konnte, wenn es von einem Priester als Gründer ausging.

In Würdigung aller relevanten Quellen kann zusammenfassend festgehalten werden, daß das primäre Verdienst um die Gründung des Elberfelder Vereins und damit auch die entsprechenden grundlegenden inhaltlichen wie organisatorischen Ideen und Konzepte zweifellos Breuer gebührt. Mit der Übertragung des Elberfelder ‚Modells‘ nach Köln, seiner weiteren Ausbreitung und der tieferen Fundierung der Vereinsidee im Kontext der Zeitverhältnisse hat Adolph Kolping demgegenüber den entscheidenden Impuls dazu geliefert, daß sich diese Idee über ihren Ursprungsort hinaus erfolgreich ausdehnen konnte. Insofern kommt Breuer - im Zusammenhang mit den von den Gesellen selbst ausgehenden Initiativen - das Verdienst um die Gründung des ersten Gesellenvereins zu, Kolping aber das Verdienst um die Begründung eines (heute) weltweiten Werkes.

Zugleich sollte aber nicht außer Acht gelassen werden, daß Adolph Kolping schon vom Jahre 1848 an durch seine Veröffentlichungen nachhaltigen Einfluß auf die weitergehende Ausformung und Fundierung der Vereinsidee sowie vor allem auf ihre über Elberfeld hinausgehende Bekanntmachung genommen hat. Die Tatsache, daß von Beginn an die einer interessierten Öffentlichkeit verfügbaren Informationen über den katholischen Gesellenverein, soweit es über den lokalen Rahmen Elberfelds hinausging, praktisch ausnahmslos von Kolping stammten, mußte letztlich fast zwangsläufig den Eindruck erwecken, daß der publizistische ‚Motor‘ der Idee auch ihr ‚Urheber‘ gewesen war. Dieser Aspekt, so scheint es, ist im Kontext des Gründungsstreits zu kurz gekommen. Er muß zumindest als nachvollziehbare Grenze im Verständnis-Horizont derjenigen gewertet werden, die nicht mit den Details der Anfänge in Elberfeld vertraut waren bzw. sein konnten.