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Tagebucheintragungen

Adolph Kolping hat nicht häufig in sein Tagebuch geschrieben, wenn, dann aber mit Gedanken aus der Tiefe seines Herzens. Hier zwei Eintragungen als 23-Jähriger in seinem ersten Schuljahr auf dem Gymnasium. Das erste Zitat macht deutlich, dass die für ihn typische Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, von Glaube und Leben, bereits früh ausgebildet sind.

 

4. November 1837

… Des Christentumes höchste Pflicht ist Menschenliebe, die Gottesliebe bedingt sie untrennbar von sich. Deshalb soll mein Bestreben, da ich nun dasselbe schätzen und verehren gelernt habe, dahin ausgehen, jene auszuüben. Dadurch bezeugt der Christ ja seinen Glauben an Ihn, den Ewigen, Allheiligen Gottessohn, der auch nur Taten grenzenloser Nächstenliebe ausübte und selbst Wunder der Liebe verrichtete, und macht sich würdig der ewigen Herrlichkeit bei Ihm. Er hob mich ja empor aus dem Drucke der Mühseligkeiten und Trauer, ließ mein Herz frei wieder atmen, sich emporrichten zum Lichte, nach dem es lechzte; und wie mit Wunderarmen gerettet, fand ich mich dahin gestellt, wo nun eine andere, höhere Bahn mir vorgezeichnet ist. Ich soll ein Zeuge seiner Lehre werden, ihn verkünden, der mit allmächtiger Liebe mein Herz rührte und es mit einem Strahl seiner Wahrheit durchzuckte, daß ich erkennen lernte das, was wahr und gut, heilig und ehrwürdig ist. So belebe dann ferner, Allheiliger, meinen Glauben und die Liebe zur Wahrheit, die Du in mir wecktest; laß mich ganz das werden, was ich soll, oder laß lieber mein Auge sich dem Lichte des Lebens schließen, eh' daß ich jenen hohen, heiligen Stand schände und nicht ausfülle, den zu erringen ich schon in meiner frühen Jugend träumte. Doch, Herr, im Vertrauen auf Dich verließ ich jene Stätte, wo so oft Seufzer um Erlösung meinem gepreßten Herzen entstiegen, wo so oft ich meine Blicke zu Dir wandte und in der Hoffnung auf Deine Allmacht wieder neuen Mut gewann. Du wirst mein doppelter Retter, Du wirst mein Begleiter sein, bis daß ich an den Stufen Deines Altars niedersinke und mit überströmendem Dankgefühle rufe: Dank dem Allheiligen.

Die zweite Eintragung lässt bereits Kolpings Lebens-Berufung als Volkspädagoge und Publizist erkennen. Die Multiplikatoren der Gesellschaft, Kolping nennt sie „die Gebildeten“. Für ihn wirken sie entweder als „Heilkraut“ oder „Giftpflanze“:

 

20. Dezember 1837

In meinen früheren Jahren fragte ich mich oft verwundernd, was doch die Menschen manchmal für besondere Gründe haben mögen, grade die bittere, dunkle Seite ihres Daseins zur Schau zu tragen und, indem sie glücklich sein könnten, nur darauf loszuarbeiten scheinen, sich immer tiefer in ein Elend zu verwickeln, das sie unwissend nähren und fortpflanzen. In der Umgebung, in der ich mich befand, sah ich bald die Gründe ein, die so leicht Leute dieser Art irreführen, da sie selten, sehr selten den Standpunkt, auf welchem sie sich befinden, begreifen, und folglich nicht ausfüllen können. Wie der Handwerker oft über das, was ihm zunächst liegt, wegsieht und etwas ins Auge faßt, das entweder für seine Lage gradezu schädlich ist oder ihn doch manchmal so aus seinem Kreise zieht, daß das Haltbare an seinem Standescharakter verlorengeht, er dabei unzufrieden, mürrisch wird, die ersten Schritte zu seiner innern Zerrüttung und dem Verderben seines Glückes getan hat und in dem Hinabsinken in den niedern Kreis schlechter Genossen seinen Sturz vollendet, so gibt es gewisse Leute, die in der Schule einer aufgeklärten Erziehung mit den Gaben höherer Vollkommenheit ausgerüstet, nicht minder unglücklich sind als jener verirrte Handwerker, der einsieht, daß seine Handlungsweise seinen Ruin schuldet, aber doch unfähig ist, kräftigere Schritte zur Besserung zu tuen, und immer nur nach der Stunde lechzt, wo er im Rausche sinnlichen Vergnügens die mahnenden und nagenden Gedanken ersticken kann.

Diese Leute sind jene, die ihre Überzeugung, ihr Bewußtsein einer freien, wahrheitsliebenden Seele um eine niedere Gunst, einen eitlen Ruhm, irgendein Pöstchen verkaufen, das sie doch innerlich verachten müssen. Mir war das ganz unerklärbar, daß mir rnanchmal Menschen auf dem Lebensweg begegneten, von denen ich mir anfangs eine ziemliche Idee gemacht hatte, die aber in dem Maße abnahm, als ich in ihren näheren Lebenskreis schauen konnte, und sich nicht selten in recht herzliches Bedauern verwandelte. Mit gewissen wissenschaftlichen Leuten kann man es halten wie mit der arbeitenden Klasse; die eigentlichen Triebfedern beider sind im Grunde dieselben, der zerstörte Lebensplan, die nämlichen Leidenschaften, die Abhängigkeit von drückenden Umständen, herbeigeführt durch drangegebene Überzeugungen, finden sich leider so oft unter Menschen, die sich wunders über den Haufen erhaben dünken, daß die Parallele, die man zwischen beiden ziehen kann, fast ineinanderfließt. Welch ein Strich war diese Beobachtung in meiner Einbildung von gebildeten Menschen! Wie schrak ich auf vor diesem Irrtume, der mir auf einmal die Meinung zerriß und die magische Kraft, die ich im Besitz des Wissens wähnte. Eine gewisse Unbehaglichkeit bemächtigte sich meiner, die aus meinem Gemütszustande leicht zu erklären ist. jugendliche Gemüter denken sich alles jugendlich, jeden Gedanken kleiden sie in die reizenste [!] Form, die sich ihnen darzustellen vermag, und die Bilder von Wahrheit, von Ehre, von einem haltbaren Ruhme umgaukeln sie immerdar; aber wie meistens jugendhofinungen wie Nebel zerfließen und dem gereifteren Manne nur noch eine dunkle Erinnerung an dieselbe geblieben ist, so liegt oft unter der Hülle, welche wir immer mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachteten oder unter welcher wir ein idealisches Lebensglück uns vorstellen, manchmal nichts weniger als dasselbe verborgen, ein Elend, eine Täuschung blickt darunter hervor, die wir kaum glauben können. Menschen, dachte ich, die über ihre Pflichten, ihre Bestimmung, ihren Wirkungskreis völlig im reinen sind (oder sein sollten), die die Mittel haben und zu gebrauchen gelernt haben, sich wert in ihrem Stande zu machen, die können doch unmöglich den Weg verkennen, den sie zu wandeln haben, die können sich doch unmöglich den Verirrungen preisgeben, die man an der niedern Volksklasse bedauert. Aber es finden sich trotz dieses Einwurfs eine Menge Menschen von dem höheren Schlage, die nichtsdestoweniger ihren Stand verkennen oder nicht zu begreifen scheinen, dazu im Grunde so genau mit jenen verwandt sind, daß nur die manierlichere Art, womit sie ihre Schwächen (oder Laster) aufzutischen verstehn, sie von denselben unterscheidet. In einer gewissen Beziehung ist dies noch um etwas schlimmer, denn es geht damit wie mit falschem Gelde; das von grobern Gepräge ist Betrug, es ist falsch, das fällt in die Augen, und jeder hütet sich davor, aber das feine, das mit Kunst ausgearbeitete, an dem man es nicht gleich sieht, obgleich es falsch ist wie das andere, das kommt unter die Leute, und sie werden betrogen damit. Ein sicherer und desto schlimmerer Betrug.

Eine ebenso schlimme Sache ist es für die menschliche Gesellschaft, wenn diejenigen Menschen, welche durch ihre Stellung oder die Bildung, die sie vor den Übrigen auszeichnete, das Augenmerk oder sozusagen der Stützpunkt der Übrigen geworden sind, wenn diese Blößen eines niedern, schmeichlerischen oder stolzen, hoffärtigen Geistes geben, die dann ein Heer von schlechten Folgen nach sich ziehen, die keiner zu beachten versteht. Da mir gleich nach dem ersten Hinblick in das innere Leben und den Wirkungskreis der Gebildetern oder, wenn man will, der Gelehrten, jene dunkle Schattenseite des menschlichen Geistes sich darbot, die mir so oft, noch in kaum dämmerndem Tageslicht der Erkenntnis sich vordrängte, so sei es hier mein Zweck, diese Ansicht zu erläutern und auf den Gründen festzustellen, die daraus ganz natürlich folgen müssen. Der Betrug an der Menschheit wird sich schon endlich unangedeutet herausstellen, da es das Ende solches Handelns [!] ist.

Es ist also eigentlich mein Zweck, das Leben und Wirken eines Gebildeten nach den Begriffen, deren ich mich noch bedienen darf, in seiner nackten Form darzustellen und dann die weiteren Fäden zu verfolgen, die sich unmittelbar daran anspinnen. Äußere Umstände können mich nicht leiten, ich bin vielmehr angewiesen, grade so die Sache aufzufassen, wie ein ruhiges Nachdenken sie mir vorführt und wie sie in ihren Folgen ans Licht tritt. Mir hat sich nämlich die Überzeugung aufgedrungen, daß aus dem Kreise der Gebildeten jene Quelle fließt, welche mit ihrem durchdringenden Elemente die Erde um sich sprossen macht, zugleich aber den Samen mit ausstreut, der wuchert und wächst, sei es zum Leben oder zum Tod, mögen es Giftpflanzen oder stinkendes Unkraut oder Heilkräuter und nützliche Gemüse sein.

Gebildete